Von Dr. Felix Gräfenberg
Auch im Oktober 1848, mehr als ein halbes Jahr nachdem in Berlin in der Nacht vom 18. auf den 19. März in Barrikadenkämpfen die sogenannte Märzrevolution ausgebrochen war, hatte sich die politische Lage in Deutschland noch nicht beruhigt. Während in der Frankfurter Paulskirche das erste deutsche Parlament und in Berlin die Preußische Nationalversammlung um Verfassungen rangen, rollte die zweite Welle der Revolution durch die deutschen Staaten. Auch in der revolutionshistorischen Peripherie hatten sich die Wogen noch nicht geglättet. Arbeitslosigkeit und prekäre Anstellungsverhältnisse bestimmten nach wie vor das Leben der städtischen wie ländlichen Unterschichten. Sie suchten Antworten auf ihre Fragen nicht in Frankfurt oder Berlin, sondern konkret vor Ort. So auch in Lippstadt, wo sich der Magistrat am 4. Oktober 1848 angesichts zahlreicher Forderungen, Anfragen und Gesuche zu folgender Mitteilung hingerissen sah:
„Der Bürgermeister kann seinen Obliegenheiten in allen Richtungen nur dann genügen, wenn ihm Zeit und Ruhe bleibt, auch den schriftlichen Arbeiten die erforderliche Thätigkeit und Umsicht zu widmen. Dieses ist unmöglich, wenn der Bürgermeister den ganzen Tag hindurch den Einzelnen Rede stehen soll, da Störungen und Unterbrechungen mit gründlichen Arbeiten unverträglich sind.“
In den Zeiten des Umbruchs fehlte es den Menschen an Sicherheit und Orientierung – zumal brauchbare Informationen über das politische Geschehen einer Gesellschaft im Wandel kaum zu erhalten waren. Schließlich war es genau dieser „Wunsch“ über die „neuesten politischen Begebenheiten in gedrängter und kurzer, aber klarer Uebersicht“ informiert zu werden, der Carl Weinert dazu bewegte, im Oktober 1848 unter dem Namen „Der Patriot“ in Lippstadt eine „Wochenschrift für Stadt und Land“ zu verlegen.
Die Gründung des „Patriot“ fügte sich dabei in einen Boom, den die Presse 1848 in Deutschland erfuhr. Nach Jahren einer repressiven Pressepolitik gehörte die Garantie der Pressefreiheit zu einen der großen Errungenschaften der Revolution. Allerorten entstanden nun neue Zeitungen, die regelmäßig über die neuesten Entwicklungen berichteten. Gerade Westfalen verfügte auch in gesamtdeutschen Vergleich über eine besonders florierende Presselandschaft. Die lokalen Blätter informierten zum einen über die Geschehnisse sowohl in den politischen Zentren als auch vor Ort – und gaben so Bericht über die großen und kleinen Debatten der Revolutionsjahre. So auch der „Patriot“.
In der Rubrik „Tagesereignisse“ informiert die erste Ausgabe der Lippstädter Zeitung auf den ersten eineinhalb der insgesamt vier Seiten über Geschehnisse in Deutschland sowie aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Wenngleich auch andere Ereignisse Beachtung fanden, so beherrschte die Revolution doch die Berichterstattung. In der komprimierten Darstellung der Ereignisse wurde den Leserinnen und Lesern des „Patriot“ dabei die europäische Dimension des Revolutionsgeschehen vor Augen geführt: Zum einen war dem „Patriot“ zu entnehmen, dass überall in Europa die politischen Systeme im Umbruch waren; zum anderen offenbarte sich bei der Lektüre, wie eng die Entwicklungen miteinander verflochten waren und grenzübergreifend in direkter Wechselwirkung miteinander standen. Mit Gründung des „Patrioten“ erweiterte sich der Erfahrungsraum der Lippstädterinnen und Lippstädter schlagartig vom unmittelbaren Nahfeld auf ein gesamteuropäisches Gefüge. Gleichzeitig verschob sich auch die Vorstellung davon, was als Nachrichten aus dem Inland zu begreifen sei. So war die Gliederung nicht nach staatlichen Grenzen organisiert, sondern nach Nationen, die 1848 in dieser Form nur in der Vorstellung der Menschen existierten.
Tatsächlich rückte das Ziel einer nationalen Einigung zum Zeitpunkt der Gründung des „Patriot“ in weite Ferne – und auch die Entstehung einer Verfassung schien in Gefahr. Seit September gewannen die Kräfte der alten Ordnung in den deutschen Staaten wieder die Oberhand, während die progressiven Kräfte angesichts des drohenden Scheiterns der Revolution erneut mobilisierten. In dieser angespannten Situation fehlte es dem „Patriot“ nicht an Neuigkeiten mit Nachrichtenwert; er informierte etwa über das Scheitern einer Badischen Republik und die schwelenden Konflikte in Wien.
In Westfalen betrachtete man die Entwicklung in den Zentren mit großer Skepsis. Bereits Mitte September hatte der Magistrat der Stadt Siegen in einer Petition seiner Sorge Ausdruck verliehen, dass „die von unserem König zweifellos beabsichtigte freisinnige Verfassung entweder gar nicht, oder so unvollkommen und so spät wie möglich zu Stande komme“. Man sah im Streit zwischen den Parlamentariern des rechten, monarchistischen Flügels und denen der demokratischen Linken „Anarchie und Reaction“ drohen, gar einen Bürgerkrieg aufziehen. Eine Sorge, die man in Lippstadt durchaus teilte, sodass man sich Anfang Oktober der Siegener Petition anschloss. Der Wusch nach einer „guten, festen Verfassung“ war nach Monaten der Unsicherheit groß.
Während ein Gros der 1848 neu gegründeten Lokalzeitungen sich in dieser offenen Situation auch als Organe der politischen Willensbildung verstanden und oft enge Bindungen zu den entstehenden politischen Vereinen, den Vorläufern unserer heutigen Parteien, aufwiesen, versprach der „Patriot“ die „größte Unparteilichkeit“. Schon der Name deutet darauf hin, dass er sich in einer anderen publizistischen Tradition sah. Bereits ab 1724 gab es in Hamburg eine gleichnamige Wochenzeitung. Diese sogenannte „moralische Wochenschrift“ war im Geiste der Aufklärung entstanden und sah sich entsprechenden Werten und Tugenden verpflichtet. Neben der Verbreitung von Neuigkeiten enthielten diese Schriften, die ihren Ursprung in Großbritannien hatten, auch wissenschaftliche und moralische Abhandlungen und diskutierten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Programmatisch schloss etwa ein Jahrhundert später auch der Lippstädter Verleger Weinert in der ersten Ausgabe seines „Patriot“ hieran an.
Die Lippstädter Zeitung vereinte Mitteilungen der Magistrats- und Stadtverordnetenverhandlungen, um ein Interesse an den politischen Aktivitäten vor Ort zu wecken, mit Gedichten, Novellen und Erzählungen, um den geistigen Genuss und das innere Leben zu fördern. Dabei zielte Weinert mit seinem Blatt auf eine konkrete Verbesserung der Lebensumstände der Menschen vor Ort ab. Er bat zum einen um die Einsendung von Klagen und Beschwerden über aktuelle Missstände des Lebens in Lippstadt, sodass diese schnell zur „allgemeinen Kenntniß“ gelangten und so Abhilfe geschaffen könnte. Zum anderen versprach er nützliche, wissenschaftlich fundierte Abhandlungen, die Verbesserungen für die Arbeits- und Lebenswelten verhießen. Wie schon der Hamburger „Patriot“ hatte das Lippstädter Blatt einen lokalen Wirkungskreis vor Augen. Die Nation, heute gemeinhin der Bezugspunkt von patriotischer Einstellung, schien für das eigene Leben und Handeln nicht von Bedeutung. Zentral war dem „Patriot“ das politische und kulturelle, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenleben vor Ort.
Wichtige Ereignisse der Revolution bis zur Gründung des Patriot
22.–24. Februar 1848: Februarrevolution in Frankreich
1. März 1848: Beginn der Märzrevolution in Baden
9. März 1848: Erste Proteste in Westfalen
12. März 1848: Demonstration und Störung des Maskenballs in Lippstadt
13. März 1848: Auflauf einiger tausend Menschen auf dem Lippstädter Marktplatz
17. März 1848: Aufhebung der Zensur in Preußen
18. März 1848: Ausbruch der Barrikadenkämpfe in Berlin
1. Mai 1848: Wahl der preußischen Abgeordneten in der Deutschen Nationalversammlung
18. Mai 1848: Zusammentreten der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt
17./18. September 1848: Septemberunruhen in Frankfurt
6. Oktober 1848: Ausbruch des Wiener Oktoberaufstands
7. Oktober 1848: Gründung des Patriot in Lippstadt
Autoreninfo:
Dr. Felix Gräfenberg leitet bei der Historischen Kommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ein Forschungsprojekt zur Revolution 1848/49 in der Region, an dem insgesamt 38 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgewirkt haben. In insgesamt 52 Lebensbildern entsteht so ein vielschichtiges Bild von der Revolution in Westfalen und Lippe. Die Ergebnisse werden veröffentlicht als: Felix Gräfenberg (Hg.), 1848/49 in Westfalen und Lippe. Biografische Schlaglichter aus der revolutionshistorischen Peripherie, Münster 2023 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge 48).